Welche Homöopathie ist zeitgemäß?

Welche Homöopathie ist zeitgemäß?

Author: 
Berndt Rieger

Ich betreibe seit sechs Jahren in Bamberg eine Arztpraxis, die zum Großteil homöopathisch ausgerichtet ist. Wie viele bayerische Städte ist Bamberg eine Homöopathen-Hochburg. Hier tummeln sich hunderte Therapeuten aller Couleurs, und viele davon haben sich einer Heilkunst verschrieben, die auf Samuel Hahnemann gründet, sich seither aber wie ein prächtiger Baum entfaltet hat, sodass mittlerweile manche Äpfel sehr weit vom Stamm fallen.

Die reine Lehre der klassischen Homöopathie wird offiziell noch gelehrt, doch wer bei den Fachgesellschaften in den einzelnen Kursen sitzt, merkt schon bald, dass auch dort längst schärfere Süppchen gekocht werden. Begonnen hat es in der Nachkriegszeit mit dem Wiener Arzt Mathias Dorcsi, der meinte, man könne homöopathische Arzneien durchaus mischen oder kurmäßig im Wechsel verabreichen. Das widerspricht der ursprünglichen Auffassung der klassischen Homöopathie, ein einzelnes Mittel in einer Einzeldosis zu verabreichen und dann die Reaktion des Körpers auf diese „künstliche Krankheit“ abzuwarten, die bei richtiger Wahl nach dem Ähnlichkeitsgesetz die alte Krankheit durch einen Überlagerungseffekt auslöschen würde. Fortgesetzt wurde dieser Umwandlungsprozess durch den griechischen Ingenieur Georgos Vithoulkas, der als Quereinsteiger in die Heilkunst in den Siebziger Jahren die Lehre von den „Essenzen“  propagierte. Die von ihm geschilderten Arzneimittelbilder wurden durch andere Autoren wie die amerikanische Ärztin Catherine Coulter modifiziert und entwickelten sich bald zur Basis der heute propagierten Homöopathie, die sich zwar noch klassisch nennt, mit Hahnemanns Lehren aber nur mehr wenig gemeinsam hat.

Mittlerweile tummeln sich in den Fachfortbildungen der Homöopathie Wortführer, die diese Heilkunst in verschiedenste Richtung weiterentwickeln. Dazu gehört zum Beispiel der Schweizer Naturarzt (so heißen dort die Heilpraktiker) mit seiner „Homöotanik“, einer auf eine einfühlsame Naturbetrachtung basierende Homöopathie mit Niedrigpotenzen, die indischen Homöopathen Rajan Sankaran, der in einem frühen Werk noch propagierte, einer Frau, deren Kopf einer Kobra ähnelt, homöopathisches Kobragift (Naja) zu verabreichen und die Brüder Sehgal, deren Vater einzelnen Empfindungen homöopathische Arzneien zugeordnet hat, die … Heilpraktikerin …., der niederländische Arzt Jan Scholten, der die Wirkung der Homöpathie auf die physikalischen Eigenschaften einzelner Elemente zurückführt und viele andere mehr. All diese Richtungen bieten jedem homöopathisch tätigen Therapeuten wertvolle Anregungen, entwickeln die Heillehre weiter – schaffen aber auch eine gewisse Orientierungslosigkeit. Gewiss ist die Homöopathie eine Heilkunst, die nie ganz beherrscht werden. Ein Leben reicht nicht aus, die Arzneien wirklich bis in ihre Tiefe kennen zu lernen. Zugleich gibt es nicht Schöneres als homöopathische Heilungen, die oft so verblüffend und durchgehend sind, dass man glauben könnte, dem Geheimnis des Ursprungs allen Lebens nahe gekommen zu sein. Wie kann man in der Vielzahl dieser Orientierungen Fuß fassen und bei der Behandlung seiner Patienten Erfolg erzielen? Dazu an dieser Stelle einige Anregungen.

Rezeptbuchhomöopathie

Die am Markt befindlichen Gesundheitsratgeber zur Homöopathie werden gerne ein bisschen belächelt. Tatsache ist aber, dass immer gleichen Empfehlungen in diesen zahlreichen, fast im Monatsabstand produzierten Bücher wirklich taugen, wie ich unlängst am eigenen Leib feststellen konnte.

Die Situation war folgend: Ich hatte mir beim Skaten den linken Unterarm gebrochen. Die Speiche war zersplittert, Sehnen abgerissen, der Bruch stark verschoben, eine böse Sache, die sofort operiert werden musste. Danach sagte mir der behandelnde Arzt, ich müsse mit einem mehrmonatigen Ausfall rechnen. Erstens sei es noch nicht sicher, dass der Knochen trotz Platte einheilen würde. Er sei so stark zerstört, dass man die Ausbildung eines künstlichen Gelenks befürchte, mit der Notwendigkeit einer neuerlichen Operation. Außerdem erfordere der schwere Gewebsschaden ein Eingipsen bis zum Oberarm für etwa drei Monate. Danach müsse man durch Krankengymnastik wieder versuchen, das zweifellos zu dem Zeitpunkt bereits steif gewordene Handgelenk wieder zu mobilisieren.

Der Verlauf war dann ganz anders. Ich war am Samstag operiert worden. Am Montag wurden mir morgens die Schläuche gezogen. Am Nachmittag hatte ich bereits wieder Patienten in der Praxis bestellt und somit keinen Tag Verdienstausfall. Ich trug trotz eindringlicher Warnung meiner Kollegen keinen Gips und nahm keine Schmerzmittel. Die ersten drei Tage waren der Arm und die Hand noch deutlich geschwollen, aber ich hatte keine Schmerzen mehr. Am fünften Tag begann ich bereits wieder mit dem Klavierspielen. Nach zwei Wochen konnte ich den Arm normal belasten. Nach vier Wochen spürte ich nichts mehr von einer vorhergegangenen Verletzung.

Meine homöopathische Eigentherapie erfolgte aus einem Rezeptbuch, und das je nach Wiederkehren der Schmerzen. Ich nahm etwa täglich Arnica C5, Symphytum D12 und Ruta D4. Die Therapie war so effektiv und heilsam, dass ich mir das eigenständige Vorgehen überhaupt zutraute, denn wenn man eine so starke Verletzung hat, ist man anfänglich kleinlaut und für jede Hilfe dankbar. Aber auch die mir aus der klassischen Homöopathie bekannten Arzneimittelbilder waren für mich hilfreich. So stellte ich anfänglich bei mir das typische Arnica-Symptom „er fürchtet, Entgegenkommende auf der Straße könnten ihn verletzen“ fest. Kaum hatte ich meine Kügelchen genommen, hatte ich diese Empfindung nicht mehr.

Homöopathische Mineralien sind weit unterschätzt

Der Platzhirsch unter den Homöopathen in Bamberg ist Dr. Ernst Trebin, ein sehr verdienter Allgemeinarzt, der sich im Laufe der Jahre immer stärker auf den Einsatz von Mineralien in der Therapie gelegt hat. Ich las davon Ende der 90er Jahre in der AHZ, insbesondere von seinen Erfolgen mit Goldsalzen. Damals kam auch die Schüßler-Salz-Therapie in Mode, die seither zur Volksheilweise geworden ist. Dabei handelt es sich um die Mineralsalze des Körpers, die in mittleren Potenzen wie D6 oder D12 angeboten werden.

Diese Behandlungspraxis schien anfänglich der klassisch-homöopathischen Ausbildung zu widersprechen, die sich vor allem auf den Einsatz der so genannten Polychreste spezialisiert hat. Dazu gehören jene Arzneien, bei denen ein großer Prozentsatz der Patienten Wirkungen zeigt wie Aconitum, Belladonna, Lycopodium, Sepia, Pulsatilla und vieles andere mehr.

Ich begann damals, mit den 12 Mineralsalzen des Körpers in Hochpotenz zu arbeiten, und siehe da: Ich hatte Erfolge bei Patienten, an denen sich andere Kollegen die Zähne ausgebissen hatten. In der Literatur gab es kaum eine Systematik dazu. Kalium carbonicum und Natrium muriaticum zum Beispiel wurden als ziemlich ähnlich empfunden, was nicht weiter verwunderlich ist, denn sie haben als Mineralsalze viele Gemeinsamkeiten. Doch die Unterschiede sind doch gravierend, wenn man ihre Funktionen im Körper berücksichtigt. Hier war mir Jan Scholtens Darstellung der Salze in seinen frühen Bänden eine große Hilfe. Er lieferte auch den Schlüssel zur Wirkweise einzelner Pflanzen, indem er ihren Mineraliengehalt überprüfte und zu dem Schluss kam, dass das besondere Gemisch davon auch die Wirkweise der Pflanzen zumindest teilweise erklärte.

Heute sind für mich die Natriumsalze Natrium muriaticum, Natrium phosphoricum und Natrium sulfuricum, die Kaliumsalze Kalium chloratum, Kalium phosphoricum und Kalium sulfuricum sowie die Calciumsalze Calcium fluoratum, Calcium phosphoricum und Calcium sulfuricum, die man von den Schüßler-Salzen kennt, so etwas wie Basismittel der Homöopathie geworden. Natriumsalze verabreiche ich immer dann, wenn es bei der Krankheit um das große Thema Leistung geht, Kaliumsalze, wenn Ordnung und Zwang im Raum stehen und Calciumsalze, wenn es im weitesten Sinne um Sicherheit geht.

Die Wahl des Homöopathikums nach seelischen Kernkonflikten bietet große Erfolgschancen

In den letzten Jahren habe ich wieder vermehrt mit Heuschnupfen zu tun. Vor vielen Jahren konnte ich mit einer Einzeldosis Natrium muriaticum C1000 mit eine fünfjährige Beschwerdefreiheit verschaffen. Seither bietet jedes Frühjahr neue Gelegenheit, bescheiden zu werden und seine therapeutischen Waffen neu zu schärfen.

Es kommen auch wieder vermehrt Patienten mit Allergien. Das war 2006 so, ein Mastjahr, als nach einem strengen Winter binnen weniger Tage die Pollen so dicht flogen, dass man jeden Morgen einen gelben Belag auf den Autos sah.

Im homöopathischen Repertorium findet man unter Heuschnupfen relativ wenige Mittel. Darunter fällt einem auf, dass fast alle Nosoden hier vertreten sind, vor allem Psorinum und Tuberkulinum. Wer sich hier die homöopathischen Arzneimittelprüfungen durchliest, würde nie auf die Idee kommen, sich diese Mittel zu verabreichen, sofern nicht bestimmte Kernsymptome vorhanden sind. Dazu gehört bei beiden die Kälteempfindlichkeit, die ich selbst zum Beispiel gar nicht habe. Trotzdem ist es mir gelungen, mit diesen Nosoden eine deutliche Linderung nicht nur meines eigenen Heuschnupfens zu bekommen, sondern auch bei einigen Patienten, bei denen ich nur wenige Übereinstimmungen zwischen ihren und meinen Symptomen beziehungsweise Charakteren feststellen kann.

Wie ist das möglich? Wir hier nicht die Homöopathie ad absurdum geführt, die doch die Ansicht vertritt, es müsse eine möglichst hohe Ähnlichkeit zwischen Wirkungen einer Arznei am Gesunden und den Beschwerden eines Patienten bestehen?

Hier führt der Weg über die „Idee“ eines Arzneimittels weiter, die nach dem Vorbild Vithoulkas’ so einem Hobby der meisten klassischen Homöopathen geworden ist, und das zu Recht, denn es lassen sich damit große Wirkungen erzielen. Meine Idee zu Psorinum ist zum Beispiel die Empfindung, dem Leben nicht gewachsen zu sein. Gerade dann, wenn die Natur sich in der Spitze ihrer Lebenskraft zeigt, mit der verschwenderischen Blütenpracht und der Üppigkeit des Pflanzenwuchses, kann ein Mensch, der Zweifel an seiner eigenen Lebenskraft hegt, durch Psorinum gestärkt werden. Dieser etwas schwammige Begriff, der auf verschiedenste Weise missverstanden werden kann, macht Psorinum aus meiner Sicht zu einer ganz wichtigen Arznei im Frühjahr, und das, obwohl das überschießende Reagieren der Schleimhäute ja eigentlich viel besser in den Bereich des sykotischen Miasmas fällt, das in der klassischen Homöopathie gelehrt wird, und für das Psorinum nun wirklich kein gutes Beispiel ist. Tatsache ist aber, dass in meiner Praxis in vielen Fällen von Heuschnupfen Psorinum gewirkt hat – und das, obwohl es sich nicht um die klassischen verfrorenen, mit Hautmakel besetzten, ältlich und schwächlich wirkenden „Psorinum-Typen“ gehandelt hat.

Am Ende führen alle Spielarten der Homöopathie zusammen

Es ist meine feste Überzeugung, dass jede ernst gemeinte und gründliche Suche nach einer passenden homöopathischen Arznei letztendlich zum gleichen Mittel führt und dass dieses dann auch Wirkung zeigen wird – egal aus welcher Richtung man dabei kommt. Wo ein Homöopath nur deshalb, weil ein Patient sich tierisch über die schlechte Behandlung aufregt, die er im Krankenhaus erfahren hat, schon Staphisagria verordnet, wird ein anderer nach sorgfältiger Analyse seiner körperlichen Symptome – darunter vielleicht Blasenbeschwerden oder Rückenschmerzen - mit dem Repertorium wahrscheinlich ebenso feststellen, dass hier Staphisagria angezeigt ist. Wieder ein anderer wird die sanfte Würde der Persönlichkeit dieses Patienten und seine Neigung, sich ritterlich zu verhalten, mit einem Staphisagria-Typen in Übereinstimmung bringen können und schon deshalb diese Arznei verordnen, ohne sich überhaupt mit den tatsächlichen körperlichen Beschwerden oder der Erkrankungssituation zu befassen. Sie alle haben im Laufe der Jahre erkannt, dass es nur eine beschränkte Anzahl wichtiger homöopathischer Arzneien gibt und haben ihren Blick auf die Welt und die Menschen geschärft und müssen quasi wie Agatha Christies Meisterdetektiv Hercule Poirot nur ihre grauen Zellen arbeiten lassen, um für bestimmte Krankheiten das richtige Mittel auszuwählen. Einen Königsweg, hier zum Fachmann zu werden, gibt es nicht. Alle „Detektive“ aber vereinen die Grundeigenschaften, mit denen sich auch im Kriminalroman knifflige Fälle lösen lassen: Neugier auf die Menschen, Einfühlsamkeit und lange Erfahrung.