Samuel Hahnemann Begründer der Homöopathie
Von Robert Jütte
ISBN 978-3-423-34476-0
-- Buchrezension Von Siegfried Letzel
Prof. Dr. Robert Jütte leitet seit 1990 das Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart. Dieses Institut beherbergt den größten Teil der heute noch existierenden Originalschriften Hahnemanns und weiterer früher Homöopathen. Es findet sich hier auch eine einzigartig gut bestückte Bibliothek: Prof. Jütte sitzt an der Quelle zu Informationen zur Homöopathiegeschichte, die er gottlob nutzt, um sie, z. B. mit diesem Buch, mit dem interessierten Leser zu teilen.
Wer nun vorab vermutet, dass Jütte in seiner Hahnemann-Biografie die Stationen und Episoden im Leben Dr. Hahnemanns chronologisch und faktisch abklappert, wird sehr bald überrascht sein:
Dieses Werk beginnt nicht mit einer Vorstellung von Samuel Hahnemanns Eltern und der Geburt des Begründers der Homöopathie, sondern es malt uns zunächst ein Bild, das uns die medizinische Welt aufzeigt, in die hinein sich Hahnemanns Wirken und Schaffen entwickelten - 1792 (Hahnemann war damals 37 Jahre alt) starb plötzlich Kaiser Leopold II.
Schon auf den ersten Seiten entführt uns Prof. Jütte in eine so ganz andere vergessene Welt, und er malt ein scharfes Bild von dem Zustand der Medizin zu jener Zeit. Bereits hier erkennt der Leser, dass der Blick des Autors weit über biografische Inhalte hinausgeht und wir deshalb von seinem detailreichen Wissen eine ganze Menge abbekommen.
Es ist, als ob man durch einen Vorhang hindurch einen Zeitsprung macht. Man erhält das Abbild eines wunderbaren historischen, wie F. Krafft es nannte, Erfahrungsrahmen. Dieser Begriff steht für ein Zusammenwirken geografischer, klimatischer, geistiger, kultureller, politischer, religiöser und anderer Faktoren und Strömungen.
Bevor wir an Hahnemann herangeführt werden, lernen wir, wie man an der Schwelle zum 19. Jahrhundert als Patient, Arzt oder Heiler mit Krankheit und Therapie umgegangen ist. Welche Behandlungsmethoden waren damals gängig? Was waren die Stellung und Aufgaben der „Staatsmedicin“, welche heute als Schulmedizin bezeichnet wird?
Prof. Jütte produziert in seiner Hahnemann-Biografie also Bilder, die weit über die Person des berühmten Arztes hinausgehen. Er beschreibt die Personen aus dem Umfeld mit so viel Liebe zum Detail. Das alles hat mitunter schon fast romanhafte Züge, so lebendig sind die Schilderungen. Wer hätte gedacht, dass wir Einzelheiten über Hahnemanns Erziehung erfahren? Welche Werte prägte der Vater dem Sohne ein? Was lebte der Vater? Wie sah dessen Arbeitswelt aus? Nach welchem Grundsatz bildete er seine Azubis aus? Welche pädagogischen Leitgedanken führten die Erziehung seines später so berühmten Sohnes an? Auf alle Fälle recht moderne!
Zu Hahnemanns Schulzeit wird uns ähnlich Herausragendes geboten: Neben biografischen Einzelheiten erfahren wir Einiges über das damalige Bildungssystem und Schulwesen. Auch hier wieder wird des Lesers Fantasie auf geniale Weise angesprochen. Wie in einer Zeitmaschine wird man zum Beobachter eines Menschen, der sich durchaus achtbar mit Geschick und Glück durchs Leben schlägt. Jütte muss in seinem Buch jeden einzelnen Satz recherchiert haben. Es gibt absolut keinen Leerlauf in dieser Biografie; obwohl sie über 250 Seiten umfasst, ohne die Anhänge am Ende des Buches mitgezählt zu haben.
Werden sie zum Beobachter des Jungen Samuel, der sein Schicksal bereits im spätpubertären Alter selbst in die Hand nahm und mit viel Fleiß und Energie begann, der Medizin seinen Stempel aufzudrücken. Jütte recherchierte Wissenswertes zu Hahnemanns Lehrern, Schulen und Universitäten, er erläutert die finanzielle Situation, in der sich der junge Mann befindet. Er beleuchtet auch so manchen seiner Gönner, die ihm ihre Unterstützung haben zukommen lassen.
In diesem Stil führt uns das Buch immer weiter im Leben Hahnemanns. Familien- und Berufsleben – stets erfahren wir Interessantes, das uns den Gründer der Homöopathie besser kennenzulernen hilft. Wie vielen Therapeuten, die am Beginn ihrer beruflichen Karriere stehen und die ihre Praxis nur schwer zum Laufen bringen, wird es Trost spenden zu erfahren, dass Hahnemann seine Praxis in Stötteritz aufgeben musste: „Meine Praxis habe ich [...] ganz aufgegeben, weil sie mir mehr Aufwand gekostet, als Einnahmen gebracht, und gewöhnlich mich mit Undank belohnt hat.“
Eine Biografie Hahnemanns ist zwangsläufig auch ein Buch über die Frühgeschichte der Homöopathie. Und so hebt Prof. Jütte von den Werken, die Hahnemann in den frühen 1790-ern übersetzte, jene Arbeit hervor, die manche als „Urknall“ der Homöopathie ansehen: die Übersetzung William Cullens’ Arzneimittellehre und der damit verbundene „Chinarindenversuch“. Auch die Geburt des Ähnlichkeitsprinzips mit der Veröffentlichung des Artikels „Versuch über ein neues Prinzip zur Auffindung der Heilkräfte der Arzneisubstanzen, nebst einigen Blicken auf die bisherigen.“ wird natürlich nicht ausgelassen.
Wir begleiten Hahnemann während seiner zahlreichen Wohnortwechsel, lernen, unter welchen Umständen er seine Heilmethode entwickelte. Selbst Nachbarschaftsstreitigkeiten gehören zu den vermittelten Aspekten.
Endlich in Torgau angekommen, kehrt etwas Ruhe ein ... Und das Organon entsteht. Professor Jütte schafft es wieder auf seine einzigartige Weise, Hahnemanns Schaffen in den Kontext seines Umfeldes zu stellen.
Hahnemanns Biografie wird ab dieser Stelle auch zu einem Geschichtsbuch zum Organon und der Weiterentwicklung der Homöopathie. Aber auch andere Facetten im Leben des Begründers der Homöopathie, z. B. seine Lehrtätigkeit an der Universität in Leipzig, werden uns weiterhin sehr kurzweilig vorgestellt. Dazu werden zahlreiche Referenzen, wie z. B. von seinem Schüler Franz Hartmann, herangezogen. Von ihm stammen auch einige interessante Details zu den frühen Arzneimittelprüfungen.
So ganz nebenbei werden uns Begriffe wie ‚homöopathisch’, ‚Homöopathie’, ‚Allopathie’, ‚Quacksalberei’, usw. im Rahmen ihrer von Hahnemann verwendeten Verwendung erklärt. Damit Jüttes Buch als schnelle Referenz für diese und andere Begriffe herhalten könnte, wäre ein ausführlicheres Sachregister vonnöten.
Nachdem der Inhalt des Organon grob umrissen ist, geht Jütte auf Kritik aus der Ärzteschaft ein.
Fast nebenbei findet der Leser einen Buchabschnitt, in dem zwischen historischen, familiären, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Details eine Untersuchung darüber stattfindet, welche Patienten-Symptome Hahnemann während seiner Köthener Zeit am höchsten wertete. Dabei bediente sich der Autor in erster Linie der Krankenjournale. Beschrieben werden einige weitere Aspekte aus der Praxistätigkeit Hahnemanns, wie Worte zum Arzt-Patienten-Verhältnis, zur Bezahlung und einigem Weiteren.
In ähnlicher Weise, wie das Organon der Heilkunst einer Biografie entsprechend recht kompakt und doch aus mehreren Blickwinkeln abgehandelt wird, verfährt Prof. Dr. Jütte mit „Die Chronischen Krankheiten“ einschließlich kurz gefassten Informationen zur Miasmen- und Psoralehre.
Wir begleiten Hahnemann weiter auf seinem Lebensweg: die Cholera-Epidemie, das homöopathische Krankenhaus in Köthen, Mélanie d’Hervilly (spätere Hahnemann), Paris, ...
Es werden nun häufiger Briefe als Informationsquelle zu Hahnemanns Privatleben genannt. Dies zeigt uns von Neuem, wie akribisch Prof. Jütte für dieses Buch forschte.
Aus Hahnemanns Pariser Praxis wird etwas näher auf einen sehr berühmten Patienten eingegangen: Niccolò Paganini, Violinist, Gitarrist und Komponist.
Das Buch nähert sich dem Jahre 1843. Herr Prof. Jütte widmete in diesem Werk den Q-Potenzen einen angemessenen Raum, gespickt mit wissenswerten Details. Und nun heißt es Abschied nehmen von einem Menschen und Arzt, Wissenschaftler und Familienvater, Freund und Kämpfer. Irgendwie ist uns Dr. Samuel Hahnemann nahe gekommen. Und es ist, als wird einem jetzt erst der Verlust wirklich bewusst, den der Tod Hahnemanns für seine Mitmenschen und die Homöopathie mit sich brachte – und für uns.
Und so, wie diese Biografie nicht mit den Eltern und der Geburt Hahnemanns begann, so endet sie nicht mit seinem Ableben: ein Häppchen wird noch nachgelegt. Prof. Dr. Robert Jütte gibt noch einige Beispiele, die mit dem Kult um Samuel Hahnemann zu tun haben, der schon zu dessen Lebzeiten begann.
Was auch immer die Zeit der Homöopathie bringen wird, sie wird für immer mit dem Namen Hahnemanns verbunden sein. Dieses Buch wird daran auch zu einem Teil beitragen. Es macht den Begründer der Homöopathie auf eine ganz spezielle Art unvergessen.