Vorträge über das Organon der Heilkunst - Zum Verständnis des § 6

Vorträge über das Organon der Heilkunst - Zum Verständnis des § 6

Author: 
Manish Bhatia

Im sechsten Paragrafen heißt es:

Der vorurtheillose Beobachter, - die Nichtigkeit übersinnlicher Ergrübelungen kennend, die sich in der Erfahrung nicht nachweisen lassen, - nimmt, auch wenn er der scharfsinnigste ist, an jeder einzelnen Krankheit nichts, als äußerlich durch die Sinne erkennbare Veränderungen im Befinden des Leibes und der Seele, Krankheitszeichen, Zufälle, Symptome wahr, das ist, Abweichungen vom gesunden, ehemaligen Zustande des jetzt Kranken, die dieser selbst fühlt, die die Umstehenden an ihm wahrnehmen, und die der Arzt an ihm beobachtet. Alle diese wahrnehmbaren Zeichen repräsentiren die Krankheit in ihrem ganzen Umfange, das ist, sie bilden zusammen die wahre und einzig denkbare Gestalt der Krankheit.

Fußnote: Ich weiß daher nicht, wie es möglich war, daß man am Krankenbette, ohne auf die Symptome sorgfältigst zu achten und sich nach ihnen bei der Heilung genau zu richten, das an der Krankheit zu Heilende bloß im verborgnen und unerkennbaren Innern suchen zu müssen und finden zu können sich einfallen ließ, mit dem prahlerischen und lächerlichen Vorgeben, daß man das im unsichtbaren Innern Veränderte, ohne sonderlich auf die Symptome zu achten, erkennen und mit (ungekannten!) Arzneien wieder in Ordnung bringen könne und daß so Etwas einzig gründlich und rationell kuriren heiße?

Ist denn das, durch Zeichen an Krankheiten sinnlich Erkennbare nicht für den Heilkünstler die Krankheit selbst - da er das die Krankheit schaffende, geistige Wesen, die Lebenskraft, doch nie sehen kann und sie selbst auch nie, sondern bloß ihre krankhaften Wirkungen zu sehen und zu erfahren braucht, um hienach die Krankheit heilen zu können? Was will nun noch außerdem die alte Schule für eine prima causa morbi im verborgnen Innern aufsuchen, dagegen aber die sinnlich und deutlich wahrnehmbare Darstellung der Krankheit, die vernehmlich zu uns sprechenden Symptome, als Heilgegenstand verwerfen und vornehm verachten? Was will sie denn sonst an Krankheiten heilen als diese?

Um den Grund für diesen und die folgenden paar Paragrafen verstehen zu können, müssen Sie ein wenig die allgemeine medizinische Praxis im 17. und 18. Jahrhundert verstehen lernen. Die Therapie im siebzehnten Jahrhundert war hauptsächlich eine Fortsetzung der aus der Vergangenheit in Bezug auf Aderlass, Abführen, Ernährungseinschränkungen, körperliches Training und der Verwendung unspezifischer Pflanzen, Mineralien und tierischer Arzneimittel. Trotz der erstaunlichen Entwicklungen in der Chemie gab es im achtzehnten Jahrhundert kaum Fortschritte in der Therapie. Die historischen Praktiken wie Schröpfen, Aderlass und Darmreinigung blieben die wichtigsten Stützen der Praktiker, während man fortfuhr, die Syphilis und andere venerische Krankheiten mit massiven, oft tödlichen Dosen von Quecksilber zu behandeln. Theriac (ein aus Opium, Vipernfleisch und einer großen Anzahl weiterer Zutaten hergestelltes medizinisches Gebräu), das Allheilmittel des Altertums, war immer noch in Verwendung, wie auch ein berühmtes Chinarindengebräu gegen Fieber aller Art das auf John Huxham zurückgeht.

Es gab eine Vielfalt von medizinischen Theorien, die zu jener Zeit vorherrschend waren. Eine der vorherrschendsten Theorien war die fast 2000 Jahre alte 'hippokratische Säftelehre'. Die meisten Ärzte glaubten immer noch, dass es vier Flüssigkeiten oder 'Säfte' im Körper gab, Blut, Phlegma, gelbe Galle und schwarze Galle. Alle Bemühungen wurden dem Erreichen des richtigen Gleichgewichtes zwischen den entscheidenden Säften gewidmet - heiß und trocken, kalt und feucht - das hielt den Körper gesund, oder, wenn aus Gleichgewicht geraten, machte ihn krank. Eine andere Krankheitstheorie besagte, dass die meisten Krankheiten aufgrund eines Überschusses an Blut (Plethora) im Körper entstehen. Die Plethora konnte 'allgemein' sein, wie im Falle von Fiebern und Krankheiten, die den gesamten Körper befallen, oder 'lokalisiert', wie im Falle von örtlichen Erkrankungen. Die Standardbehandlung war Aderlass - Venotomie für die allgemeine Plethora und Schröpfen und Blutegelsetzen für die lokalisierte Plethora. Aderlass war die verbreitetste Behandlung um Krankheitssymptome zu lindern und bösartige Säfte abzulassen. Eine Palette Blut - genau drei Unzen (etwa 90 ml) - wurde bei einer Pleuritis gelassen und wurde am Ellenbogen des Arms gegenüber der betroffenen Seite entnommen. Zwei bis vier Paletten wurden aus der Brust entnommen, um eine Peripneumonie zu heilen. Die Vena basilica wurde bei Problemen mit der Leber oder der Milz bluten gelassen, während die Vena temporalis bei Melancholie oder Migräne punktiert wurde. Jedes Leiden hatte seine Vene und jede Vene ihr Leiden.

Von Hoffmann gab es eine andere Theorie über Krankheiten. Er glaubte, dass der ganze Körper sich als Reaktion auf eine als "Tonus" bekannte Fähigkeit erweitern oder zusammenziehen konnte. Dies wiederum wurde von einem "nervalen Äther" kontrolliert, der vom Gehirn ausgeht. Gesundheit hing von der richtigen Regulation des Tonus ab und Hoffmanns relativ einfache Therapie bestand aus der Verabreichung entspannender Beruhigungsmittel oder reizender Stimulanzien - ein an die Theorie der "Poren" erinnerndes System, für die Asclepiades in der Zeit der Römer eintrat.

Eine weitere Theorie wurde von einem Studenten von Cullen aufgestellt, dem medikamenten- und alkoholabhängigen John Brown (1735-88), der annahm, dass "Erregbarkeit" die Basis körperlicher Gesundheit war und der deshalb die Anwendung von Stimulanzien oder Beruhigungsmitteln empfahl, um das gewünschte harmonische Gleichgewicht an "Stimuli" zu bewirken. Brown klassifizierte alle Krankheiten als "sthenisch" oder "asthenisch".

Noch eine weitere Theorie, ebenfalls hoch spekulativ, nahm beträchtlichen Einfluss in Frankreich. Theophile de Bordeu (1722-1776) übernahm Stahls Doktrin von einer "Lebenskraft" und schlug seine eigene Version von Vitalismus vor, von der er behauptete, dass die drei wichtigen Organe des Körpers - Magen, Herz und Gehirn - ein Sekret bilden deren richtige Konzentration im Blutkreislauf hilft, gesund zu bleiben.


Heute findet man die meisten dieser Theorien als hochgradig absurd, aber in jenen Tagen waren dies die 'modernsten' Errungenschaften innerhalb der medizinischen Theorie und sie hatten großen Einfluss, sowohl in Europa als auch in Amerika. Der Grund dafür, diesen Teil der Medizingeschichte mit Ihnen zu teilen, ist, Sie dazu zu bringen, sehen zu können, warum Hahnemann so beharrlich auf die Beendigung der 'Spekulationen' bestand und forderte, sich auf die 'Beobachtung' zu verlassen.

Beginnend mit der Periode der Renaissance vom 15. -16. Jahrhundert, machte die Wissenschaft allgemein sprunghaft Fortschritte. Es gab große Fortschritte im Bereich der Physik, Chemie, Botanik, Zoologie, Anatomie, Pathologie und sogar in der Chirurgie. Aber die Medizin blieb weit zurück und bis zum späten 19. Jahrhundert gab es in ihrer Ausübung kaum Fortschritte. Die meisten vorherrschenden Theorien zu Zeiten Hahnemanns waren gänzlich spekulativ. Es gab kein 'Verständnis', keine 'Logik' hinter jenen Theorien und Behandlungsarten. Sie wurden nie 'bewiesen'. Jeder 'Pionier' oder 'aufstrebender Pionier' suchte irgendeine wundervolle Entdeckung im menschlichen Körper, irgendein Elixier, das alle menschlichen Probleme beendet. Die meisten von ihnen hatten keine Vorstellung davon, was sie suchten!

Deshalb sagte Hahnemann:

... das an der Krankheit zu Heilende bloß im verborgnen und unerkennbaren Innern suchen zu müssen und finden zu können sich einfallen ließ, mit dem prahlerischen und lächerlichen Vorgeben, daß man das im unsichtbaren Innern Veränderte, ohne sonderlich auf die Symptome zu achten, erkennen und mit (ungekannten!) Arzneien wieder in Ordnung bringen könne und daß so Etwas einzig gründlich und rationell kuriren heiße?

Er fuhr fort, zu sagen, dass Sie nicht versuchen sollten, die Ursache für die Krankheit im versteckten Inneren des Menschen zu finden. Die Krankheit 'spricht' zu Ihnen durch die Sprache der 'Zeichen und Symptome'. Schenken Sie der Sprache des Körpers Beachtung und Sie müssen keine leeren Theorien schaffen, um das Phänomen Natur zu erklären. 'Beobachten Sie', was mit dem Patienten passiert, welche Veränderungen an seinem Zustand vor sich gehen, anstatt zu versuchen, Theorien zu weben, die nicht mit Erfahrung bewiesen werden können.

Was fordert Hahnemann von Ihnen zu tun?

... - nimmt, auch wenn er der scharfsinnigste ist, an jeder einzelnen Krankheit nichts, als äußerlich durch die Sinne erkennbare Veränderungen im Befinden des Leibes und der Seele, Krankheitszeichen, Zufälle, Symptome wahr, das ist, Abweichungen vom gesunden, ehemaligen Zustande des jetzt Kranken, die dieser selbst fühlt, die die Umstehenden an ihm wahrnehmen, und die der Arzt an ihm beobachtet. Alle diese wahrnehmbaren Zeichen repräsentiren die Krankheit in ihrem ganzen Umfange, das ist, sie bilden zusammen die wahre und einzig denkbare Gestalt der Krankheit

Hahnemann sagt, dass ein Arzt die Veränderungen, die im Gesundheitszustand von einer Person auftreten, schärfstens beobachten soll, wenn diese von einem morbiden Zustand betroffen ist. Er sagt, dass die morbiden Veränderungen, die sich im Körper abspielen, in Form von Zeichen und Symptomen nach außen reflektiert werden und wenn Sie diese Veränderungen gewissenhaft beachten, werden Sie in der Lage sein, das vollständige Bild der Natur der Krankheit zu erfassen.

Er ging noch weiter und sagte, dass nicht nur die Veränderungen des körperlichen Zustandes, sondern auch die Veränderungen im Gemütszustand des Patienten aufgezeichnet werden sollten. Jede Abweichung von Gesundheit, sei sie körperlich oder geistig, ist Teil des Krankheitsbilds.

Wie kommen Sie an diese Informationen?

Hahnemann sagt:

  1. Benutzen Sie Ihre Sinne, um jede morbide Veränderung zu bemerken.
  2. Hören Sie dem Patienten zu. Dies trifft sogar heute noch nur zu gut zu! Wie viele moderne Ärzte schenken den Worten des Patienten tatsächlich Beachtung? Für sie ist die Diagnose und sind die Blutwerte immer noch wichtiger als die Worte des Patienten. Ich habe dies in meiner Praxis schon so oft gehört, wenn die Patienten sich darüber beklagen, dass die konventionellen Ärzte ihnen nie zuhören. Sie verlangen einfach nach der Diagnose und stellen das Rezept aus. Wenn der Patient beharrlich bleibt, bekommt er oft nur ein kurzes: "Wer ist hier der Arzt?"
  3. Hören Sie den Begleitpersonen des Patienten zu. Jene, die dem Patienten die ganze Zeit nahe stehen, können oft sehr nützliche Informationen über den Zustand des Patienten, dem Wesen des Patienten, über verursachende Faktoren und Modalitäten, ... und sogar über die Reaktion auf das Mittel, liefern. Also schenken Sie der Bedeutung der Details von Begleitpersonen immer die nötige Beachtung.
  4. Beobachten Sie den Patienten. Hier beschränkt sich 'beobachten' nicht auf den Sehsinn. Eher steht es für alle Sinneseindrücke, die der Arzt sammeln kann - sei es durch Beobachtung, Geruch, Hören, Palpation, Auskultation, Untersuchung, usw. Der Arzt muss scharfe Sinne haben ..., weil jede Information Ihnen den Hinweis zum Mittel geben kann. Es könnte der Klang des Hustens sein, der Gang, die Eigenarten, der Gesichtsausdruck, die Gesten, die angewendete Sprache, der Ton der Stimme, der Geruch des Körpers, das Styling der Kleidung, die Körperhaltung, der Zustand der Zunge, das Gesicht, die Nägel die, Haut, usw. Wenn Sie dem Patienten nicht 100% Ihrer Aufmerksamkeit schenken, wird das richtige Mittel zu finden für Sie viel mühsamer sein. Und wenn Sie aufmerksam genug sind, können Sie das Mittel oft sehr schnell finden.

So, jetzt wissen Sie, was Sie nicht tun dürfen, was zu tun ist und wie man es macht. Aber Hahnemann sagt, dass Sie nur dann in der Lage sein werden, alle relevanten Informationen des Patienten einzuholen, wenn Sie frei von Vorurteilen beobachten. Er sagt:

Der vorurtheillose Beobachter, - die Nichtigkeit übersinnlicher (interessiert an der voreingenommenen oder intuitiven Grundlage von Wissen, unabhängig von Erfahrung) Ergrübelungen kennend, die sich in der Erfahrung nicht nachweisen lassen, - nimmt, auch wenn er der scharfsinnigste ist, an jeder einzelnen Krankheit nichts, als äußerlich durch die Sinne erkennbare Veränderungen im Befinden des Leibes und der Seele wahr...

Lassen Sie uns dies weiter erörtern, weil dies sehr wichtig und oft eine Ursache für Fehlschläge in unserer täglichen Praxis ist.

Vorurteile beziehen sich auf ein Urteil oder eine Meinung, die im vorhinein oder ohne Kenntnis von den Fakten gebildet wurden. Das bedeutet, dass, wenn Sie einen Patienten vor dessen Untersuchung, oder bevor Sie den Fall vollständig aufgenommen haben, beurteilen, Sie voreingenommen sind; wenn Sie vor der Fallanalyse an das Mittel oder die Potenz denken, sind Sie voreingenommen. Unsere Vorurteile werden auf vielfache Weise in unserer Praxis reflektiert - in der Entscheidung, was zu heilen ist und was unheilbar ist (Ist es unheilbar, weil es mein Lehrer sagte oder weil ich es spüre?), in der Diagnostizierung des Patienten, in der Arzneimittelwahl, in der Potenzwahl, in der Wiederholung des Mittels, im Fallmanagement usw.

Aber am häufigsten kommen unsere Vorurteile bei der Arzneimittelwahl zum Vorschein, einem besonderen Zustand, den ich 'bevorzugtes-Mittel-Syndrom' nenne. Wir alle tendieren zu einer speziellen Affinität zu einem Mittel, mit dem wir in einem 'ähnlichen' Fall in der Vergangenheit gute Ergebnisse erzielen konnten. Wir haben bevorzugte Mittel gegen Akne, Hämorrhoiden, Autismus, Halsschmerzen und gegen beinahe alles. Es ist sehr schwer, dieses Vorurteil abzulegen und den Patienten objektiv zu beurteilen. In dem Moment, in dem wir voreingenommen werden, hören wir auf, dem zuzuhören, was der Patient uns sagt, und wir fangen an zu hören, was WIR hören wollen; wir hören auf, die Totalität zu sehen und sehen nur das, was zu unserem Vorurteil passt. Alle unsere sensorischen Kanäle sind auf die gleiche Weise betroffen (blockiert) wie unsere Vorurteile. Also ist es unbedingt notwendig, dass wir unsere Vorurteile ablegen, bevor wir beginnen, einen Fall aufzunehmen.

Aber ist es wirklich möglich, vorurteilslos zu sein? Ich persönlich glaube nein. Vorurteile sind oft von unseren Erfahrungen abgeleitet und sie sind normalerweise ein Teil unseres Wesens. Wie werden Sie nun Ihre Vorurteile los? Ich glaube, dass die 'Bewusstheit' über unsere Vorurteile die beste Art ist, die Kraft unserer Vorurteile zu vermindern, um in der Weise arbeiten zu können, wie Hahnemann es von uns wollte!

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Dr. Manish Bhatia