Von der Wahl der Potenz

Von der Wahl der Potenz

Author: 
Jeremy Sherr

Wenn es um die Potenz geht, gibt es drei Wege zum Wissen, und diese sind die drei Wege, die Homöopathie zu erlernen: Fälle, Materia Medica und Theorie. Dies ist das Dreieck, aus dem sich alle homöopathischen Studien und das Wissen zusammensetzen. Bei meiner Recherche nach Wegen, um die optimale Potenz für einen Fall zu finden, habe ich mich dem auch über die oben genannten drei Wege genähert.

Fälle

Als ich zu praktizieren begann und ein Gefühl für die Potenzen bekommen wollte, wandte ich die Taktik an, in meinem ersten Jahr nur die C30 zu verschreiben. In meinem zweiten Praxisjahr verschrieb ich die C30 und die C200 und im dritten Praxisjahr C30, C200 und 1M. Erst danach ging ich zur 10M und der gesamten Bandbreite der Potenzen über. Durch die Konzentration auf eine einzige Potenz während eines ganzen Jahres bekam ich ein Gefühl dafür, was jede Potenz leisten kann. Das war mein Ansatz aus den Fällen etwas über die Potenz zu lernen.

Ich war überrascht, wie kraftvoll die C30 ist und wie lange sie anhält. Es gibt Fälle, in denen ich eine C30 gegeben habe, die zwei Monate, 6 Monate oder sogar ein Jahr lang gewirkt hat. Mir wurde klar, dass die C30 recht machtvoll und langwirkend war und dass sie die meisten Pathologien berühren konnte. In Bezug auf die C200 geht der Mythos um, dass die C200 sehr aktiv und gefährlich sei. Ich habe diese Erfahrung nicht gemacht, aber gelegentlich ist sie kraftvoller als die C30. In Bezug auf die Länge der Wirkung kann ich nicht sagen, dass sie länger anhält.

Was den Unterschied zwischen den Potenzen angeht, so ist das Wichtigste daran die Art des Sprungs zwischen den Potenzen, d.h. von der C30 zur C200, von der C200 zur 1M, von der 1M zur 10M. So ist zum Beispiel meiner Erfahrung nach der Sprung von der C200 zur 1M nicht so kraftvoll, wie der Sprung von der C30 zur C200.

Materia Medica

Mein zweiter Annäherungsweg führt über die Materia Medica und für mich erforscht man die Materia Medica am besten über Prüfungen. Das Prinzip der Homöopathie, dass Ähnliches Ähnliches heilt bedeutet, wir finden durch die Prüfungen heraus, was die Mittel heilen können. Warum sollte man nicht die gleiche Regel auf die Potenz anwenden? Im Grunde genommen ist das der logischste Ansatz, sich mit den Potenzen auseinander zu setzen, indem man in den Prüfungen herausfindet, was eine Potenz hervorbringen kann. Bis heute habe ich über dreißig Prüfungen nach Hahnemann durchgeführt und eine ganze Reihe von Potenzen in diesen Prüfungen verwendet. Ich habe auch verschiedene Dinge über sie herausgefunden.

Eine Sache kann ich mit Sicherheit sowohl aus den Fällen, als auch den Prüfungen sagen, nämlich dass der Glaube, hohe Potenzen würden das Gemüt beeinflussen und niedrige die körperliche Ebene, falsch ist. In den Prüfungen kamen einige der stärksten geistig-emotionalen Symptome von einer C6, und bei der C200 habe ich sogar manchmal gar keine geistig-emotionalen Symptome gefunden, sondern mehr körperliche und umgekehrt. Das bedeutet, dass die geistig-emotionale-körperliche Hierarchie sich nicht auf die Potenzen erstreckt. Ich hatte Fälle aus dem geistig-emotionalen Bereich, denen mit niedrigen Potenzen wunderbar geholfen werden konnte. LM1, LM2, C6, C12 und mir ist das Gegenteil begegnet in Form höherer Potenzen und körperlichen Zuständen. Ich habe Prüfungen mit einer Einzelgabe einer C12 gesehen, die monatelang anhielt. Ich denke, dass höhere Potenzen eine höhere dynamische Ebene berühren, aber eine höhere dynamische Ebene bedeutet nicht notwendigerweise Symptome geistiger oder emotionaler Natur.

Früher betrachtete man eine Hochpotenz als sanfte Verschreibung. Heutzutage empfinden die Leute eine Hochpotenz als aggressive, gefährliche Potenz. Früher dachten die Homöopathen oft: ich bin besser vorsichtig, ich gebe lieber eine 50M. Heutzutage denke die Leute: ich bin besser vorsichtig, ich gebe eine C30. Und die Wahrheit, dass beide recht haben, denn es hängt vom Fall ab und nicht von der Potenz.

Es ist grob vereinfachend und führt zu falschen Eindrücken, wenn wir bestimmte Charakteristika bestimmten Potenzen zuschreiben. Denn die Potenz an sich bedeutet gar nichts, es ist die Reaktion des lebendigen Organismus auf die Potenz, die zählt. Eine C30 wird also sehr unterschiedlich auf Menschen wirken, je nach ihrer Empfänglichkeit, Pathologie, Lebenskraft, etc. Es ist nicht das gleiche, ob man eine C200 als erste Potenz gibt, oder nach einigen Gaben einer C30.

THEORIE

Die Theorie ist für mich der wichtigste der drei Wege, denn das ist die Quelle und der Grund hinter dem, was wir tun. Wenn es keine Theorie gibt, drehen sich der klinische Bereich und die Materia Medica nur im Kreis, ohne eine wahre Richtung.

Sie werden die Theorie der Potenzen nicht im Organon finden, dort gibt es keine präzisen Regeln, mit welcher Potenz man was behandeln kann. Tatsächlich gibt es sogar eine gewisse Verwirrung im Organon in dieser Hinsicht und das kommt aus der Verwirrung zwischen den Worten Dosis/Gabe und Potenz, die oft im Wechsel verwendet werden. Man weiß nicht, ob die Menge der Arznei gemeint ist, also zwei Globuli, vier Globuli, etc., oder die Potenz der Arznei. Im allgemeinen scheint es eine Mischung aus beidem zu bedeuten, so dass es sehr schwierig ist, sich aufgrund von Hahnemanns Anweisungen für eine Potenz zu entscheiden.

In Bezug auf die Wahl der Potenz beziehe ich mich auf Paragraph 16 im Organon. Ich habe eine Zusammenfassung meiner Gedanken zu diesem Paragraphen in meinem Buch über die Syphilis veröffentlicht. In Paragraph 16 steht, dass eine dynamische Krankheit nur von einem dynamischen Erreger hervorgerufen werden kann. Was ist ein dynamischer Erreger und was bedeutet dynamisch? Dynamisch bedeutet, in der Lage, sich zu bewegen, etwas, das sich bewegt, das lebt. Wenn also die Lebenskraft etwas ist, das sich bewegt und sich verändern kann, dann kann sie nur dynamisch von etwas beeinflusst werden, das sich bewegt und sich verändern kann. Das ist Hahnemanns erste Prämisse in Paragraph 16. Hahnemanns zweite Prämisse in diesem Paragraphen ist, dass wenn Krankheiten dynamisch sind, können sie nur von dynamischen Arzneimitteln beeinflusst werden, d.h. von Arzneien die zu Bewegung und Veränderung fähig sind. Aus diesem Grund dynamisieren wir unsere Arzneimittel, bringen sie in Bewegung. Hahnemanns logische Gleichung lautet: Krankheit ist dynamisch, die Lebenskraft ist dynamisch und deshalb brauchen wir dynamische Arzneimittel.

Hieraus schloss ich, dass wir die Potenz aufgrund der dynamischen Krankheitsebene des Menschen wählen können. Das bedeutet, wir müssen die Potenz des Mittels der Krankheit anpassen. Ich halte Potenzen nicht für eigenständige Einheiten. Worum es geht, ist die Natur der Interaktion zwischen der Potenz und dem kranken Menschen. Die 10M für eine Person ist nicht die 10M für eine andere Person und daher rührt meine Meinung, dass man nicht verallgemeinern kann. Aus diesem Grund habe ich nach einem Weg gesucht, die dynamische Ebene jedes Menschen zu messen und die ihrer Krankheit und dann die entsprechenden Dynamisationen anzupassen.

EBENEN DER DYNAMIS

Wenn wir den gesunden Zustand als höchste dynamische Ebene ansehen, wie in Paragraph 9 des Organon formuliert, dann ist der gesunde dynamische Mensch in einem Zustand konstanter vitaler Bewegung, die ihn in die Lage versetzt, sich sofort jedem äußeren und inneren Wechsel der Umwelt anzupassen und ihm völlige Handlungsfreiheit gibt.

Im Gegensatz dazu wird ein kranker Mensch mehr und mehr statisch und eingeschränkt, ist nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen oder anzupassen. Ein Toter hat keine Dynamik mehr und kann sich deshalb überhaupt nicht mehr anpassen, verändern oder bewegen. Um diese Ebenen zu messen, habe ich eine Skala von dynamisch zu statisch entwickelt, die sich von Zehn bis Null bewegt. Zehn ist ein völlig gesunder Mensch mit maximaler Dynamik, Null ist ein Toter, der völlig statisch ist.

Wenn jemand in seinem höchsten Gesundheitszustand ist, wird er eine höhere Potenz und eine kleinere Dosis/Gabe brauchen. Zum Beispiel eine Person, die sehr gesund ist, abgesehen von davon, dass sie alle Jubeljahre einmal an einem bestimmten Tag Halsschmerzen bekommt, oder einer anderen Person, die sich leicht jeder Situation anpasst. Diese sind sehr dynamisch und brauchen hoch potenzierte Mittel, die so dynamisch sind, wie sie selbst. Die Ähnlichkeitsregel auf die Potenz angewendet. Aber ein Mensch mit Krebs, Schizophrenie, Arthritis oder einer anderen festgefahrenen Krankeit, braucht eine sehr statische Potenz. Deshalb war Cooper sehr erfolgreich mit der Anwendung von (Arbovital) Urtinkturen bei der Krebsheilung.

Ich habe eine Eselsbrücke, die uns hilft, uns an die unterschiedlichen Indikatoren der Lebenskraft des Patienten zu erinnern. Ich nenne sie: MHPGEKE:

Modalitäten

M steht für Modalitäten. Wir können sagen, dass je präziser und deutlicher die Modalitäten des Patienten sind, desto gesünder sind sie. Ein Mensch, der Kopfschmerzen hat, die exakt um 1 Uhr morgens schlimmer werden ist gesünder als jemand, der die ganze Nacht krank ist. Ein Mensch, der nur durch bestimmte Nahrungsmittel erkrankt, z.B. Sellerie ist gesünder als jemand, der von jeder Art Gemüse krank wird. Ein Mensch, der die ganze Nacht Kopfschmerzen hat oder von allen möglichen Nahrungsmitteln krank wird ist sehr statisch und unfähig, sich seiner Umgebung anzupassen. Wir können also sagen, dass die Präzision der Modalitäten ein guter Indikator für den Zustand der dynamischen Gesundheit ist.

Heilungshindernisse

H steht für Heilungshindernisse, die immer den dynamischen Zustand herabsetzen: sie machen die Person statischer. Heilungshindernisse wie Kaffee trinken, schlechte Ernährung, Rauchen, zuwenig Sport, Handys, Stress und natürlich viele weitere, werden einen Menschen statischer machen. Mehr als jeder andere Faktor setzen schulmedizinische Medikamente das dynamische Niveau des Menschen herab. Diese Medikamente sind starke Belastungen für ein dynamisches System.

Pathologie

P steht für Pathologie. Je organischer die Krankheit ist, je tiefer die Pathologie ist, je ernster die Organe angegriffen sind, desto niedriger ist der Dynamikfaktor. Die Energie kann durch statische Organe nicht richtig fließen und das Fehlen des Energieflusses lässt Krankheit entstehen. Umgekehrt ist die Person umso dynamischer, desto funktioneller und weniger innen liegend die Krankheit ist.

Gemütszustand

G steht für den Gemütszustand. Hier müssen wir zwischen einem statischen und einem dynamischen Gemütszustand unterscheiden. So ist z.B. eine Person, die nur Höhenangst hat dynamischer, als jemand der an einer Zwangsneurose leidet, der dementsprechend ständig in diesem Zustand steckt. Das ist ähnlich wie ein leichter Schmerz in den Gelenken nach dem Sport im Vergleich zu einer fortschreitenden Arthritis mit Fehlstellungen. Jeder hat Gemütsthemen  aber wir sollten in der Lage sein, diese Themen auf der Skala dynamisch-statisch einzuordnen.

Das widerspricht der Idee hoher Potenzen für die geistige oder emotionale Ebene. Obwohl es stimmen kann, dass herausragende Gemütssymptome für eine starke Lebenskraft sprechen, wäre es ein Fehler zu glauben, dass ein Mensch mit 20 Phobien und einem Dutzend Ängste oder Zwänge auf der Gemütsebene fixiert ist und eine sehr hohe Potenz bekommen sollte. Tatsächlich ist diese Art von Patient in einem sehr niedrigen, festgefahrenen Zustand und braucht häufig wiederholte, niedrige Potenzen.

Energie

E steht für die Energie, die Lebenskraft. Man muss zwischen zwanghafter Energie wie bei der Hyperaktivität und echter Lebenskraft unterscheiden. Wenn jemand das Bedürfnis nach ständigem Sport hat, mag das wie ein Zustand hoher Energie aussehen, aber tatsächlich ist es ein statischer Zustand, denn dieser Mensch ist darin gefangen. Echte Vitalität tendiert auf der anderen Seite dazu, sanft zu fließen, mit dem harmonischen Lebensfluss zu gehen, wie Hahnemann es nennt. Was er damit meint ist, dass ein dynamischer Mensch die Möglichkeit zur Entspannung genauso wie die Fähigkeit zur Aktivität hat, beides zeigt sich zur rechten Zeit am rechten Ort. Wenn wir mit den Universum übereinstimmen, fließt die universelle Energie ungehindert durch uns, und wir erschöpfen nicht unsere inneren Kräfte.

Kreativität

K steht für Kreativität, das bedeutet, wie nah eine Person dem höheren Zweck ihrer Existenz ist. Laut Paragraph 9 ist dieser "höhere Zweck des Daseins" die ultimative Manifestation von Gesundheit. Wir müssen wahrnehmen, ob unsere Patienten nur überleben und sich gar nicht bewusst ist, warum sie hier sind, oder ob sie einen klaren Sinn für ihre Bestimmung haben und wie nah sie deren Erfüllung sind. Wir sind nicht dazu da, um zu beurteilen, was ihr höherer Zweck ist, aber wir können ihre Wahrnehmung davon einschätzen und die entsprechenden Handlungen, die sich als persönliches Gefühl von Erfüllung zeigen sollten und hoffentlich in einem besseren Zustand der Welt.

Empfindsamkeit

Dann gibt es noch ein paar zusätzliche Faktoren, die unsere Wahl der Potenz beeinflussen können, wie z.B. die Empfindsamkeit. Ein Mensch, der überempfindlich auf alle Mittel oder Umweltfaktoren reagiert, hat tatsächlich einen niedrigen dynamischen Zustand. Sie mögen sehr reaktionsfreudig erscheinen, aber tatsächlich hängen sie in diesem Zustand von Überempfindlichkeit fest. Am anderen Ende des Pols finden wir Menschen ohne jede Empfindsamkeit gegenüber irgendwelchen Umweltfaktoren oder Arzneimitteln, die natürlich auch eine niedrige Punktzahl bekommen müssen. Ein dynamischer Zustand moderater und angemessener Empfindsamkeit muss die höhere Punktzahl erhalten.

Ein weiterer Parameter für die Potenz ist die Erfahrung des Behandlers. Es ist besser für einen unerfahrenen Behandler, niedrigere oder mittlere Potenzen zu verschreiben.

Für jede dieser Kategorien wählen wir eine Zahl, die der dynamischen Ebene des Patienten angepasst ist. Wenn wir alles bewertet haben, können wir die Punkte zusammenzählen und sie durch die Anzahl der Parameter teilen, um den Durchschnittswert zu ermitteln. Diesen Wert passen wir der Skala der Potenzen an. Zum Beispiel, wenn ein Mensch einen Durchschnittswert von 9 hat, würde ich zu einer 10M oder 50M tendieren. Wenn eine Person jedoch nur 2 oder 3 Punkte auf der Skala erreicht, wäre ich geneigt, niedrigere Potenzen, wie die C12 öfters zu wiederholen, oder die niedrigeren LMs zu verschreiben. Je statischer der Fall, desto niedriger die Potenz und desto mehr Wiederholungen sind nötig.

Dieses System gibt uns eine recht zuverlässige Methode, den dynamischen Zustand des Patienten zu messen. Der durchschnittlich 'gesunde Mensch' dem wir im allgemeinen begegnen, wir wohl eine acht oder neun erreichen, wohingegen jemand in einem Zustand schwerer Pathologie, wie z.B. eine Erkrankung im Endstadium eine eins, zwei oder drei erreichen wird. Indem wir die Potenzen oder Dynamisationen dem dynamischen Niveau des Patienten anpassen, behandeln wir ähnliches mit ähnlichem, sowohl in Bezug auf die Potenz als auch auf das Mittel.

Manche Leute haben erstaunliche Erfolge und arbeiten doch nur mit sehr niedrigen Potenzen, wohingegen andere mit der ganzen Skala arbeiten. Wir müssen alle Werkzeuge, die uns zur Verfügung stehen benutzen und herausfinden, was in jeder individuellen Situation wirkt. Dies ist natürlich nur eine allgemeine Zusammenfassung meiner Methode. Wenn sie mehr von diesem System verstehen wollen, kommen Sie zur Dynamis Schule, wo sie weitere Informationen erhalten1

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Adaptiert aus: ‘Aspects of potency and repetition: - an interview with Jeremy Sherr’  [Aspekte der Potenz und Wiederholung – ein Interview mit Jeremy Sherr] von Nick Hewes The Homeopath 2004 und ‘Jeremy Sherr’ in What About the Potency? A Comprehensive Guide to Potency [Wie ist das mit der Potenz? Ein verständlicher Führer zur Potenzwahl], von Michelle Shine, Food for Thought Publications UK 2006