Title: Vorträge über das Organon der Heilkunst - Zum Verständnis des § 7-8
Heute werde ich versuchen, die §§ 7 und 8 gemeinsam abzudecken, weil beide eng miteinander verknüpft sind und versuchen, das Gleiche mit unterschiedlichen Worten zu vermitteln.
Im § 7 heißt es:
Da man nun an einer Krankheit, von welcher keine sie offenbar veranlassende oder unterhaltende Ursache (causa occasionalis) zu entfernen ist1, sonst nichts wahrnehmen kann, als die Krankheits- Zeichen, so müssen, unter Mithinsicht auf etwaniges Miasm und unter Beachtung der Nebenumstände (§ 5), es auch einzig die Symptome sein, durch welche die Krankheit die, zu ihrer Hülfe geeignete Arznei fordert und auf dieselbe hinweisen kann – so muß die Gesammtheit dieser ihrer Symptome, dieses nach außen reflectirende Bild des innern Wesens der Krankheit, d.i. des Leidens der Lebenskraft, das Hauptsächlichste oder Einzige sein, wodurch die Krankheit zu erkennen geben kann, welches Heilmittel sie bedürfe, – das Einzige, was die Wahl des angemessensten Hülfsmittels bestimmen kann – so muß, mit einem Worte, die Gesamtheit2 der Symptome für den Heilkünstler das Hauptsächlichste, ja Einzige sein, was er an jedem Krankheitsfalle zu erkennen und durch seine Kunst hinwegzunehmen hat, damit die Krankheit geheilt und in Gesundheit verwandelt werde.
Fußnote 1- Daß jeder verständige Arzt diese zuerst hinwegräumen wird, versteht sich; dann läßt das Uebelbefinden gewöhnlich von selbst nach. Er wird die, Ohnmacht und hysterische Zustände erregenden, stark duftenden Blumen aus dem Zimmer entfernen, den Augen-Entzündung erregenden Splitter aus der Hornhaut ziehen, den Brand drohenden, allzufesten Verband eines verwundeten Gliedes lösen und passender anlegen, die Ohnmacht herbeiführende, verletzte Arterie bloßlegen und unterbinden, verschluckte Belladonne-Beeren u.s.w. durch Erbrechen fortzuschaffen suchen, die in Oeffnungen des Körpers (Nase, Schlund, Ohren, Harnröhre, Mastdarm, Scham) gerathenen fremden Substanzen ausziehen, den Blasenstein zermalmen, den verwachsenen After des neugebornen Kindes öffnen u.s.w.
Fußnote 2 - Von jeher suchte die alte Schule, da man sich oft nicht anders zu helfen wußte, in Krankheiten ein einzelnes der mehrern Symptome durch Arzneien zu bekämpfen und wo möglich zu unterdrücken – eine Einseitigkeit, welche, unter dem Namen: Symptomatische Curart, mit Recht allgemeine Verachtung erregt hat, weil durch sie nicht nur nichts gewonnen, sondern auch viel verdorben wird. Ein einzelnes der gegenwärtigen Symptome ist so wenig die Krankheit selbst, als ein einzelner Fuß der Mensch selbst ist. Dieses Verfahren war um desto verwerflicher, da man ein solches einzelnes Symptom nur durch ein entgegengesetztes Mittel (also bloß enantiopathisch und palliativ) behandelte, wodurch es nach kurz dauernder Linderung sich nachgängig nur um desto mehr verschlimmert.
Im § 8 heißt es:
Es läßt sich nicht denken, auch durch keine Erfahrung in der Welt nachweisen, daß, nach Hebung aller Krankheitssymptome und des ganzen Inbegriffs der wahrnehmbaren Zufälle, etwas anders, als Gesundheit, übrig bliebe oder übrig bleiben könne, so daß die krankhafte Veränderung im Innern ungetilgt geblieben wäre1.
Fußnote 1 - Wenn jemand dergestalt von seiner Krankheit durch einen wahren Heilkünstler hergestellt worden, daß kein Zeichen von Krankheit, kein Krankheits-Symptom mehr übrig und alle Zeichen von Gesundheit dauernd wiedergekehrt sind, kann man bei einem solchen, ohne dem Menschenverstande Hohn zu sprechen, die ganze leibhafte Krankheit doch noch im Innern wohnend voraussetzen? Und dennoch behauptete der ehemalige Vorsteher der alten Schule, Hufeland, dergleichen mit den Worten (s.d. Homöopathie S. 27. Z. 19.): »Die Homöopathik kann die Symptome heben, aber die Krankheit bleibt« – behauptete es theils aus Gram über die Fortschritte der Homöopathik zum Heile der Menschen, theils weil er noch ganz materielle Begriffe von Krankheit hatte, die er noch nicht als ein, dynamisch von der krankhaft verstimmten Lebenskraft verändertes Sein des Organisms, nicht als abgeändertes Befinden sich zu denken vermochte, sondern sie für ein materielles Ding ansah, was nach geschehener Heilung noch in irgend einem Winkel im Innern des Körpers liegen geblieben sein könnte, um dereinst einmal bei schönster Gesundheit, nach Belieben, mit seiner materiellen Gegenwart hervorzubrechen! So kraß ist noch die Verblendung der alten Pathologie! Kein Wunder, daß eine solche nur eine Therapie erzeugen konnte, die auf bloßes Ausfegen des armen Kranken losging.
Um diese Paragrafen gut zu verstehen, müssen Sie auf die medizinischen Theorien Bezug nehmen, die zu Hahnemanns Zeiten vorherrschend waren. Ich habe diese Theorien in meiner letzten Lektion zum § 6 ausführlich diskutiert und an dieser Stelle möchte ich die Schlüsselpunkte nur zusammenfassen. Das medizinische System, das zu Hahnemanns Zeiten vorherrschte, basierte in erster Linie auf unterschiedlichen Hypothesen. Krankheiten wurden allem Möglichen zwischen einem Ungleichgewicht der Körperflüssigkeiten bis zu Blutfülle (Plethora) zugeschrieben. Trotz der immer weiter anwachsenden Fortschritte im Bereich der Anatomie und Physiologie wusste niemand sicher, was die Krankheiten verursachte. Die Leute stellten Hypothese über Hypothese auf, die weder auf Erfahrungen noch auf Beobachtungen beruhten, sondern auf Fantasie, um die wahre Ursache von Krankheiten zu erklären. Viele großartige Köpfe versuchten, die ‚wahre Ursache’ von Krankheiten irgendwo im Körper versteckt zu finden. Gegen diese Form der Projektion, Hypothesen und Bemühungen zur Findung der Krankheitsursache im Inneren des Menschen, während man an dieser Stelle das, was man äußerlich deutlich wahrnehmen kann (die Symptome), vernachlässigt, erhob Hahnemann in diesen beiden Paragrafen seine Stimme.
Was Hahnemann hier sagt, ist, dass in allen Fällen, in denen es keine identifizierbaren auslösenden oder unterstützenden Ursachen gibt, es alleine die Symptome sind, die uns etwas über die Krankheit aussagen und dass es alleine die Symptome sind, die uns zu dem Heilmittel führen. Ich habe bereits die auslösenden und grundlegenden Ursachen in meinem Vortrag über den § 5 besprochen, daher werde ich hier nicht ins Detail gehen. Der Kern der Sache ist, dass Hahnemann seine Stimme gegen die verschiedenen Hypothesen erhob und die wahre Krankheitsursache geltend zu machen versuchte, während er die ‚Präsentation’ der Krankheit ignorierte.
Er sagt -
... so muß die Gesammtheit dieser ihrer Symptome, dieses nach außen reflectirende Bild des innern Wesens der Krankheit, d.i. des Leidens der Lebenskraft, das Hauptsächlichste oder Einzige sein, wodurch die Krankheit zu erkennen geben kann, welches Heilmittel sie bedürfe, – das Einzige, was die Wahl des angemessensten Hülfsmittels bestimmen kann – so muß, mit einem Worte, die Gesamtheit2 der Symptome für den Heilkünstler das Hauptsächlichste, ja Einzige sein, was er an jedem Krankheitsfalle zu erkennen und durch seine Kunst hinwegzunehmen hat, damit die Krankheit geheilt und in Gesundheit verwandelt werde.
Dies unterstreicht ganz klar die Notwendigkeit, die klinische Präsentation in jedem Fall zu studieren, als Mittel, um die innere Störung, die zur Krankheitsentwicklung führt, herauszufinden. Hahnemann sagt, dass die ‚Gesamtheit der Symptome’ das Einzige ist, was der Arzt beachten muss, um herauszufinden, was im Patienten nicht in Ordnung ist und was geheilt werden muss.
In der zweiten Fußnote zu § 7 macht sich Hahnemann über die allopathische Praxis der isolierten Behandlung von Symptomen lustig. Er sagt, dass ein einzelnes Symptom kein verlässliches Bild von der Krankheit abgibt. Wenn man den Patienten behandelt, indem man auf ein einzelnes Symptom achtgibt, ist es, als ob man überlege, wer ein Mensch ist, indem man auf einen Zeh oder eine Hand schaue. Wenn man also das Erbrechen mit einem Antiemetikum behandelt, Hypertonie mit einem blutdrucksenkenden Mittel, Stuhlverstopfung mit einem Abführmittel – man kümmert sich nicht um das vollständige Krankheitsbild und die Krankheitsursache. Wenn man solche Symptome isoliert unterdrückt, dann stimmt das nicht mit der Krankheit überein und dies kann dem Patienten häufig schaden. Hahnemann sagt, dass allopathische Medikamente nach einer anfänglichen Besserung für gewöhnlich die Symptome verschlimmern. So wie die Stuhlverstopfung sich verschlechtert, sobald das Abführmittel abgesetzt wird. Dies trifft für beinahe sämtliche Fälle zu, außer in einigen akuten Fällen (wie bei akuter Gastritis), in denen sich die Lebenskraft von alleine erholt, und in solchen Fällen wird es keine Verschlimmerung geben, wenn die allopathische Arznei abgesetzt ist.
Der Teil des siebten Paragrafen, der mir am meisten gefällt, ist die erste Fußnote. Hier können Sie die Gedankentiefe von Hahnemann sehen und über seinen Weitblick staunen. Heute gibt es sehr wenige Homöopathen auf dieser Welt, die einen Fremdkörper aus Nase, Ohr oder Auge entfernen, eine Wunde nähen, eine Magenspülung durchführen oder einen Anus imperforatus öffnen können. Hahnemann wusste ganz genau, dass sich nicht alle Zustände mit der Medizin verbessern lassen. Es gibt Fälle, bei denen Bedarf es gar keiner Arznei, und nur eine kleine Veränderung in der Ernährung und der Lebensweise wird den Patienten in Ordnung bringen. Wir haben heute so viele Krankheiten, verursacht durch unsere Lebensweise, und immer noch versuchen wir für alle eine chemische Heilung’ zu finden. Und dann gibt es Fälle, die ein operatives Eingreifen erfordern, um das Leiden des Patienten zu lindern. Es ist traurig, wenn man sieht, dass die Mehrzahl der Homöopathen, sogar in Indien, nicht darin ausgebildet ist, die grundlegendsten Notfallmaßnahmen durchzuführen, wie Wunden zu nähen, zu schienen, eine ausgekugelte Schulter einzurenken, Fremdkörper aus einer Körperöffnung zu entfernen, eine normale Geburt auf die Reihe zu bringen oder einen Luftröhrenschnitt zu machen. Wir müssen nicht als Chirurgen arbeiten, aber dies sind solch grundlegende Maßnahmen, unabhängig von der ‚Pathie’, die man praktiziert, dass jeder behandelnde Arzt diese Fähigkeiten haben sollte. Wenn Hahnemann heute noch leben würde, hätte er sicherlich darauf bestanden, und ich bin dazu bereit, mich über dieses Thema heiser zu schreien, bis mir unsere Kollegen und Regierungen ihr Ohr schenken.
Während Hahnemann auf die Wichtigkeit der Symptome bestand, ließ er (wie gewöhnlich) bezüglich der grundlegenden Ursache von Krankheiten keinen Raum für Missverständnisse – über unsere Empfänglichkeit. Er sagt:
... so müssen, unter Mithinsicht auf etwaniges Miasm und unter Beachtung der Nebenumstände (§ 5), es auch einzig die Symptome sein...
Er schrieb, dass, während Sie sich mit der Totalität der ‚Symptome’ befassen, Sie nicht die Möglichkeit eines zugrunde liegenden Miasmas und Begleitumstände ignorieren dürfen, die zur Krankheit beitragen könnten. Was er hier aussagen wollte, ist, dass in einem Arthritisfall, wenn sie den Patienten aufgrund seiner Symptome durch die Gelenkschmerzen behandeln (z. B. verschlimmert durch Bewegung, besser durch Ruhe), sie nicht in der Lage sein werden, die zugrunde liegende ‚Krankheit’ zu heilen. Bei chronischen Krankheiten müssen Sie die zugrunde liegende Empfänglichkeit angehen, sie müssen über die ‚Totalität der Symptome’ hinaussehen und die vergangene Krankengeschichte, Familiengeschichte und die körperliche und geistige Konstitution studieren, um die ‚Totalität des Patienten’, seine Anfälligkeiten, mit denen er geboren wurde, die Tendenzen, die er erworben hat und den Zustand seiner Empfänglichkeit, zu verstehen – nur dann werden Sie in der Lage sein, das wahre Simillimum zu finden. Zusätzlich müssen Sie die Begleitumstände wie Ernährung, Lebensweise, Kultur und Umfeld berücksichtigen. Diese Faktoren können zu dem Krankheitszustand beitragen, und es wird schwierig sein, einen Fall selbst mit dem richtigen Arzneimittel zu heilen, bis wir irgendwelche Begleitumstände, die eine Störung der Lebenskraft verursachen oder dazu beitragen und die Krankheit fördern, korrigieren. Sobald Sie die Tiefe von Hahnemanns Worten verstehen, können Sie nicht anders, als über das pure Genie zu staunen. Es ist ein Meisterstück in der Medizingeschichte ... seiner Zeit weit voraus!
Der § 8 scheint gegen Hufelands Kritik an der Homöopathie gemünzt zu sein. Hufeland (und einige weitere Zeitgenossen) war der Meinung, dass, während die Homöopathie Symptome behandeln kann, sie die Krankheit nicht heilen könne. Hahnemann war über diese Aussage entsetzt. Er fand sie verrückt. Er sagte, dass sich die Krankheit in Form der Zeichen und Symptome manifestiert, und wenn also die Zeichen und Symptome verschwunden sind, dann ist es nur natürlich zu glauben, dass die Krankheit, die die Symptome verursachte, im Körper nicht mehr vorhanden ist. In der Fußnote erklärt Hahnemann, dass diese Vorstellung, dass die Krankheit von den Symptomen getrennt sei, aus der materialistischen Vorstellung der alten Schule entsteht. Sie wären nicht in der Lage, die dynamische Natur einer Krankheit, die dynamische Störung der Lebenskraft, zu verstehen und sie fahren zu fühlen fort, dass irgendeine materielle Krankheitsursache, die es im verborgenen Inneren des menschlichen Organismus geben muss, sogar nachdem keine Spur einer Krankheit zurückgeblieben ist, weiterbestehen muss. Er empfand, dass Hufelands Aussage ‚dem Menschenverstande Hohn spricht’! Hier gibt es nicht viel zu erklären, weil sogar ich genauso fühle.
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Dr. Manish Bhatia