Hahnemanns Theorie der Chronischen Krankheiten, Studienausgabe für die Praxis
Von Herausgeber Classen, C. (2005),
Sonntag-Verlag Stuttgart, € 39,95
ISBN 978-3-8304-9190-3
-- Buchrezension Von Dr. Jörg Haberstock
Das Studium der Hahnemann’schen Quellenliteratur: trocken, zäh und langweilig? Und andererseits doch unverzichtbare Grundlage für jedes solide Studium der Homöopathie? Dieser Spannung ist mehr oder weniger jeder, der sich auf die Homöopathie näher einließ, so oder ähnlich schon begegnet.
Mit Hahnemanns Theorie der Chronischen Krankheiten liegt nun eine kommentierte Version des vollständigen ersten Bandes von „Die chronischen Krankheiten“ Hahnemanns vor, zuzüglich der kommentierten Vorworte der Folgebände. Classen ging dabei zunächst den gleichen Weg wie in der im gleichen Verlag bereits in zweiter Auflage erschienenen Studienausgabe Hahnemann's Organon der Heilkunst:
Der komplexe Originaltext Hahnemanns wird dem Leser nicht erspart oder vereinfacht, sondern auf eine etwas leserfreundlichere Weise präsentiert. Im aufgeschlagenen Buch findet sich auf den jeweils links liegenden Seiten der unveränderte Hahnemann-Text, rechts gegenüber stehen absatzweise zusammenfassende Inhaltsangaben und kurze Kommentare. Eine durchgängige Absatzzählung ermöglicht auch optisch die sofortige Zuordnung, weitere Orientierungshilfen sind Zwischenüberschriften und Kolumnentitel.
Tut eine solche Bearbeitung dem Original nicht Gewalt an? Gewiss, jede Hahnemann- Bearbeitung stellt einen Filter dar. Classen scheint sich dieser Problematik bewusst und bemüht sich um maximale Transparenz. Inhaltsangaben und Kommentare sind konsequent voneinander abgesetzt, auf diese Weise soll vermieden werden den
Hahnemann-Wortlaut bereits im Vorfeld mit persönlichen Interpretationen zu belasten. Der Kommentarteil ist insgesamt knapp gehalten und auf Kernaussagen reduziert, das Layout ist übersichtlich und der Lesefluss im ursprünglichen Text wird auf keine Weise unterbrochen.
Die vorliegende Studienausgabe lässt Hahnemanns Genialität, den großen Wurf einer umfassenden Theorie der chronischen Krankheiten ebenso erkennen wie zeitbedingte Irrtümer und methodologische Schwächen, etwa die fehlende Unterscheidung von Feigwarzenkrankheit und Tripper oder selbstbestätigende Schlüsse wie „unvenerisch, also psorisch“. Wer sich grundlegend, dies bedeutet stets auch mit historisch-kritischem
Blickwinkel mit Miasmatik beschäftigen will, findet hier eine solide Basis.
Heute manchmal übersehen wird, dass Hahnemanns erster Band der chronischen Krankheiten in seinem zweiten Teil und eigentlich un abhängig von der jeweiligen Miasmen-Adaption vor allem ein Praxis-Buch ist, mit vielen praktischen Hinweisen zur Behandlung chronischer Krankheiten, die sich im Organon nicht oder nur weniger ausführlich finden. Auf auf Behandlungsfehler, auf Wechselwirkungen, Riechgaben, Placebogaben und Behandlung während der Schwangerschaft wird eingegangen; die allgemeinen therapeutischen Hinweisen Hahnemanns etwa zur Lebensführung machen die Dimension chronischer Behandlungen über die Mittelverschreibungen hinaus
deutlich. Das Thema Mittelwechsel präsentieren die „Chronischen Krankheiten“ teils erheblich anders als dies in der Kent’schen Tradition gelehrt wird; die Kommentare machen auf solche Widersprüche aufmerksam und helfen, die Aussagen in ihrem Kontext zu verstehen. Querverweise zum Organon (zur 6. und wo angebracht, auch zur 5. Auflage) fehlen ebenso wenig.
Schön, dass die Vorworte der Folgebände in der gleichen Weise mit aufgenommen sind, zumal zwei dieser Vorworte auch für die Arzneimittelherstellung relevant sind und historisch Wegschritte hin zu den später so genannten Q-Potenzen darstellen. Abweichungen zum heute alleinverbindlichen HAB werden aufgezeigt. Weitere Hintergründe liefert ein Anhang mit Materialien. In kurzen, prägnaten Sequenzen wird der Frage nachgegangen, ob inwiefern Hahnemanns Psorabegriff mit der Milbenkrätze identifiziert werden kann, wird Hahnemanns Einteilung der Krankheitsarten nach Künzli erläutert und eine kurze Zeittafel zeigt die Entwicklung miasmatischer Ideen im Spiegel der Schriften Hahnemanns. Homöopathisch geläufige Begriffe wie Miasma, Krätze,
Diathese oder Unterdrückung werden in ihrer Bedeutung im damaligen historischen Kontext und schon vor Hahnemann dargelegt. Worterklärungen von Aderknoten bis Zwergmuskel fehlen im Anhang ebenso wenig wie ein Stich wortverzeichnis, wobei letzteres den heutigen Wortschatz ebenso wie historische Ausdrücke berücksichtigt.
Welche Ausgabe von „Die chronischen Krankheiten“ oder des „Organon“ jemand bevorzugt, wird immer eine persönliche Entscheidung sein. Manch einer wird sich nach wie vor für den einfachen Hahnemann-Text oder andere Ausgaben entscheiden, und auch die beiden Studienausgaben sind keine bequeme Abkürzung oder Unterhaltungslektüre. Für die Mehrzahl ernsthaft interessierter heutiger Leser und besonders für Studierende dürfte jedoch erreicht sein, was Classen sich zum Ziel gesetzt hat: Die sprachliche Kluft zwischen den Jahrhunderten zu überbrücken und eine echte Hilfe zum Quellenstudium zu bieten, oh-ne die Authentizität des Originals zu verdecken.