Das Similimum im Leben
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Ursprünglich schrieb ich diesen Artikel vor langer Zeit für eine Zeitschrift, als die Debatten über die Klassische Homöopathie und die modernen Herangehensweisen hitzig geführt wurden. Ich habe mich entschlossen, ihn hier und jetzt zu veröffentlichen, um ihn einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Seit zwei Jahren habe ich in vielen Zeitschriften und vielen Webseiten die andauernden Debatten über die Art, in der die Homöopathie ausgeübt wird, gelesen. Ich habe gesehen, auf welche Art und Weise die grössten zeitgenössischen Homöopathen in einer Schlacht der Worte verwickelt sind. Jeder scheint entweder zu versuchen etwas zu beweisen, oder etwas Anderes zu widerlegen. Einige sprechen über die Klassische Homöopathie und einige sprechen über ihre Varianten. Einige sprechen über Physik und manche über Metaphysik. Manche denken über die Wissenschaft nach und manche wundern sich über die Kunst, die die Homöopathie ist. Ich bin kein Sankran, ich bin kein Vithoulkas, ich bin kein Naumann, und ich bin kein Scholten. Also habe ich nichts zu beweisen und nichts zu widerlegen. Dennoch habe ich etwas das ich mit Ihnen teilen möchte. Dinge, die Teile meines Lebens waren, Erfahrungen, die vermutlich viele von Ihnen erfahren haben.
Meine Reise in die Welt der Homöopathie begann im Alter von siebzehneinhalb. Das erste Buch welches ich in meine Hände nahm war das Organon der Heilkunst von Hahnemann. Mit jedem Paragraphen den ich darin las machte ich einen Freudensprung, weil ich eine sehr grosse Entdeckung gemacht hatte. Es war eine grosse Entdeckung für mich persönlich, die der Welt der Medizin, und auch für mein Verständnis zwischen dieser Welt und mir selbst. Meine Reise in die höhere Wahrheit hat hier nicht geendet. Ich las Kent, Close, Roberts, Boenninghausen, Farrington usw. und jedesmal konnte ich mir nicht helfen, das Werk dieser Männer anzuerkennen. Diese Leute unterscheiden sich in vielen Punkten in ihrem Verständnis und der Herangehensweise an die Homöopathie, und doch ist ihr individueller Beitrag so immens, dass er unverzichtbar ist. Dann las ich Vithoulkas und sagte "grossartig!"; ich las Sankran und ich sagte "Hoi!"; ich las Scholten und sagte "Innovativ!"; ich las Eileen und sagte "Das ist anders!". Diese und viele weitere zeitgenössische Homöopathen haben mir geholfen, ein besserer Homöopath zu werden. Ich habe von jedem Einzelnen gelernt und ich wundere mich, weshalb diese Leute nicht voneinander lernen können. Warum kleben sie alle an ihrer eigenen Idee des Similimums? Wo ist die Flexibilität die ein Homöopath haben sollte?
Unsere engstirnige Welt
Wie viele von uns können eine Standarddefinition von "Leben" geben? Ich denke, es kann gar keine Standarddefinition von Leben geben. Das Leben hat so viele Blickwinkel, so viele Varianten, dass es nicht in wenige Zeilen Text zusammengefasst werden kann. Da das Leben keine starre Definition haben kann, können Varianten im Zustand des Lebens, d.h. Krankheit, Heilung usw. ebenfalls keine begrenzten Definitionen haben. Unsere Meinungsverschiedenheiten entstehen aus dem grundsätzlichen Unterschied, mit dem wir das Leben, Krankheit, Heilung, und Behandlung wahrnehmen. Wir werden durch die Werke die wir lesen und durch die Erfahrungen die wir machen zu stark eingeschränkt. Jeder von uns hat seine/ihre eigene Ansicht über den Kosmos. Jeder von uns lebt in seiner/ihren eigenen 'Welt'. Das Problem entsteht dadurch, dass wir zu glauben beginnen, dass jeder die Welt mit gleichen Augen sieht. Jeder von uns hat Vorurteile und die meisten von uns glauben keine zu haben!
Ein anderer Einfall
Meine persönliche Lebenserfahrung bisher war, dass 'Wahrheit' ein relativer Begriff ist. Was für mich wahr ist kann für jemand Anderen falsch sein. Was heute für mich absolute Wahrheit ist, kann morgen für mich zu einer relativen werden. Dies geschah mit meinem Verständnis auf welche Art und Weise Heilung erfolgt. Mit siebzehn, nach dem Lesen des Organon, des 'Ähnlichkeits-Gesetzes' und seiner Anwendung potenzierter Arzneien, schien dies für mich der einzige Weg zu sein, wie Heilung erfolgen könnte. Ich fühle immer noch, dass dies wahrscheinlich der beste Weg ist. Aber jetzt weiss ich, dass dies nicht der 'einzige' Weg ist.
Ich erinnere mich, als eines Tages meine Schwester mit rasenden Kopfschmerzen aus dem Büro kam. Ich war damals noch ein Student. Ich konnte keine Medizin anbieten. Ich legte nur meine Hände auf ihren Kopf und sang ihr ein wunderschönes Ghazal (eine indische Form der Musik/Poesie). Als das Ghazal zu Ende war, waren die Kopfschmerzen nicht nur gelindert, sie waren weg! Ich weiss nicht, ob es meine Berührung war oder die Musik oder beides gewirkt hat. Und dennoch muss sie ihr 'Similimum' auf irgendeine Art bekommen haben, welches ihre Kopfschmerzen in ungefähr zehn Minuten verschwinden liess.
Ein anderes mal entwickelte meine eine Woche alte Nichte einen heftigen Eiterausschlag. Das Breitband-Antibiotikum der vierten Generation, das im Krankenhaus verabreicht wurde, versagte. Sie schrie schrecklich aufgrund der Hautreizung. In solchen Momenten nahm ich sie oft in meine Arme und spielte einige gefühlvolle Musikstücke (Bhajans) die ich für ihre Mutter während der Schwangerschaft gespielt hatte. In einigen Augenblicken hörte das Schreien auf und einige Minuten später hatte ich einen vier Kilogramm schweren Knuddel in meinen Armen, wie ein Baby schlafend! Ich weiss nicht welches Similimum sie erhielt, aber ihre Reizung muss mit Sicherheit nachgelassen haben, damit sie sich wohlfühlen und schlafen konnte.
Dies sind nicht isolierte Zwischenfälle. Meine Mutter sagt mir oft, dass sie sich besser fühlt und ihre Beschwerden nachlassen wenn ich in der Nähe bin. Wissenschaftliche Forschung hat gezeigt, dass Neugeborene, die während ihres Aufenthaltes auf der Intensivstation Mutterkontakt haben, eine viel niedrigere Sterblichkeitsrate haben. Was für eine Art der Heilung ist dies? Vor einigen Tagen sandte mir eine vorher unbekannte Person Post mit der Anfrage über eine ganz bestimmte Herangehensweise an die Homöopathie zu. Nach zwei Antworten sandte er mir einen Brief: "Dr. B, ...Nur mit ihnen zu kommunizieren hat eine therapeutische Wirkung auf mich. Wenn es ihnen nichts ausmacht, kann ich ihnen gelegentlich schreiben?...". Ich kenne diese Person nicht und er kennt mich nicht. Er ist keiner meiner Patienten und er war einige Kontinente entfernt. Warum fühlte er sich nur dadurch besser, indem er mir etwas mitteilte, was er bereits seinem Homöopathen gesagt hatte? Ich weiss es nicht.
Dies sind ein paar Ausschnitte aus meinem Leben, ich habe solche Dinge aber auch im Allgemeinen erlebt. Die Homöopathie und unsere Vorstellung von einem Similimum ist nur ein Weg um Harmonie in unser System zurückzubringen. Es ist nicht der einzige Weg. Zu Zeiten sah ich Patienten die keine Medizin benötigten. Sie kommen mit vielen psychologischen Problemen und alles was sie brauchen ist jemand der ihnen zuhören kann und mit ihnen ihre Probleme bearbeitet. Ja! Psychologen helfen manchmal. Sogar die emotionelle Heilung die während einer genauen Fallaufnahme erfolgt funktioniert auf ähnliche Art. Ich glaube an das was ich sehe. Ich sah Leute die mit Ayurveda, Praan Chikitsa, Yoga, Meditation, Musik, Berührungstherapie, Reiki usw. genasen. All diese Annäherungsweisen haben ihre eigenen Geltungsbereiche und ihre eigene Menge von Einschränkungen. Wenn besonnen angewandt, kann jede von ihnen Harmonie zurückbringen und Gleichgewicht in unserem Körper, was wir durch unser Ähnlichkeits-Gesetz versuchen zu erreichen.
Die umfassendere Frage
Die Frage die mir einfällt ist die, wenn 'Heilung' selbst so viele Modalitäten und Wege haben kann um Harmonie wiederherzustellen, warum kann die Homöopathie dann nicht flexibel genug sein um mehr als eine Modalität der Ausübung zu umfassen, um lebenswichtige Harmonie wiederherzustellen? Ich schenke nichts keinen Glauben bis ich es gesehen und erfahren habe. Wenn ich neue Herangehensweisen lese oder neue Arbeiten, werfe ich sie nicht in den Papierkorb, weil sie mit meinen bestehenden Ansichten nicht überseinstimmen. Lass es Vithoulkass Essenzen homöopathischer Arzneimittel sein, Sankrans Idee über den Kern des Wahnsinns, Scholtens innovative Herangehensweise an das Periodensystem der Elemente - ich ging die Bücher durch und probierte die Ideen in der Praxis aus bevor ich mir Meinungen über sie gebildet habe. Sogar heute, wenn mir jemand sagt, man könne täglich 300 Patienten in der Sprechstunde haben indem man Vijyakars Ansichten benutzt und dennoch Klassische Homöopathie betreiben, sage ich nicht, dass dies nicht möglich ist. Ich sage, "Ich werde lesen, ich werde sehen, und ich werde es ausprobieren". Erst dann werde ich ja oder nein sagen.
Wenn jeder von uns diese Flexibilität in unserer Herangehensweise entwickelt und beginnt, genug Freiräume für sich und auch andere zu belassen, dann, so hoffe ich, werden wir fähig sein zusammenzuwachsen und dieser Kampf über die Vorherrschaft von Ideen wird im Guten enden.
___________________
Dr. Manish Bhatia